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Vermutung für dieses Bild. Wie der Google-Algorithmus neue Wirklichkeiten schafft – Die Künstlerin Sissy Schneider im Gespräch

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Sissy Schneider wurde 1993 in Köln geboren. Von 2012 bis 2016 studierte sie an der Folkwang Universität der Künste in Essen Kommunikationsdesign. Seit 2017 absolviert sie ein postgraduales Studium an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Wir haben mit ihr über Ihre letze Ausstellung “Vermutungen für dieses Bild” gesprochen. Schneider lebt und arbeitet in Köln.

Seit wann machst Du Kunst?

Das Malen und Zeichnen habe ich mit dreizehn Jahren für mich entdeckt, als eine Art “Safe Space”. Ein Ort und ein Tun, bei dem ich ganz ich selbst sein kann, geschützt von allen äußeren Zwängen und Ansprüchen. Seitdem hat mich die künstlerische Arbeit nicht mehr losgelassen.

Wer oder was inspiriert Dich?

Momentan interessiere ich mich besonders für zeitgenössische künstlerische Positionen, vor allem für die jüngeren und noch nicht so bekannten, die sich mit skulpturalen, installativen oder postfotografischen Themen beschäftigen. Und ich liebe Bibliotheken. Dort finde ich immer das, was ich nicht gesucht habe.

Worum geht es in Deinen aktuellen Arbeiten “Ghosts” und “Vermutung für dieses Bild”? Wie genau äußert sich der Bruch zwischen der fotochemischen und der digitalen Fotografie?

In beiden Arbeiten habe ich mich mit Fragestellungen der postfotografischen Bedingungen und dem fotografischen Material anhand von “Flohmarktfotografien” auseinandergesetzt. Es handelt sich dabei um Positivabzüge, die teilweise über 70 Jahre alt sind und in der Regel aus Haushaltsauflösungen stammen.

Die Arbeit “Ghosts” beschäftigt sich mit der Reproduktion des Reproduktionsmittels und mit der fotochemischen Materialgebundenheit der Fotografie im Kontext der postfotografischen Bedingung. Dadurch, dass Flohmarktfotografien aus ihren familiären Kontexten (Alben, Familien, Archiven) entnommen wurden, gibt es meistens keine Negative, denen sich die Bilder zuordnen lassen würden, wodurch die Reproduktion im ursprünglichen Sinne nicht mehr möglich ist. Stattdessen habe ich künstliche Negative mithilfe digitaler Scans angefertigt. Die Installation zeigt die gekauften Fotografien in variablen Größen, Materialien und Reproduktionsformen. Foliendrucke, Lamda-Belichtungen, original Flohmarkt-Fotografien und analoge schwarz-weiß Vergrößerungen sowie Fotogramme, die mithilfe der künstlich hergestellten Negative angefertigt wurden.

Die Arbeit “Vermutung für dieses Bild” bearbeitet die Metapher der Fotografien von Flohmärkten als Waisenkinder auf eine andere Art. Die Flohmarktfotografien besitzen keinen familiären oder narrativen Kontext mehr, verweisen jedoch aufgrund ihrer Materialität auf ihren Ursprung und die fehlende Geschichte. Um dem fehlenden Kontext auf die Spur zu kommen habe ich mir das größtmögliche Bildersammelsurium, das Internet, zunutze gemacht. Ich habe die Scans der Fotografien bei der Google-Bildersuche hochgeladen in dem Versuch, sie irgendwo da draußen wiederzufinden und etwas über ihre Herkunft erfahren zu können. Der Google-Algorithmus besitzt eine Bilderkennungssoftware und liest die Komposition, die Kontraste und Farben aus und sucht ähnliche Bilder. Anschließend stellt Google auch eine semantische Vermutung bezüglich des Bildinhaltes an: Vermutung für dieses Bild. Als Ergebnis der Rückwärts-Bildsuche zeigt Google außerdem in einer Liste optisch ähnliche Bilder an. Diese sind, meiner Vermutung nach, jedoch nicht nur optisch ähnlich, sondern auch der semantische Kontext, der durch das Ergebnis der inhaltlichen Vermutung ausgelesen wurde, wird berücksichtigt.

Es gab jedoch nie einen exakten Treffer. Keine der gescannten Flohmarktfotografien konnte gefunden werden. Stattdessen habe ich die von dem Algorithmus entdeckten Verwandtschaften zwischen dem Suchbild und den Bildergebnissen genutzt, um eine neue künstliche Kontextualisierung vorzunehmen. So finden Bilder aus unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Kontexten durch die attestierte Verwandtschaft vom Algorithmus zueinander. Diese Neukontextualisierung führt zu einer neu konstituierten Narration (Surrogat-Familiengeschichte). Diese entsteht aufgrund der Google-Taxonomie und durch die Betrachtung der Bildauswahl von Suchergebnissen sowie deren Anordnung mit dem Ursprungsbild vom Flohmarkt in einem Panel.

Seit wann sammelst Du alte Fotografien und warum hast Du damit begonnen?

Ich habe vor knapp fünf Jahren angefangen Flohmarktfotografien zu sammeln. Das war im Mauerpark in Berlin. Mich haben diese Kisten auf Flohmärkten seither magisch angezogen, ohne dass ich am Anfang hätte sagen können warum. Und dann waren die auch noch so günstig. Die Faszination an den Bildern habe ich in meinen Arbeiten “Ghosts” und “Vermutung für dieses Bild” dann genau analysiert. Dennoch lässt sich das nie ganz in Worte fassen, deshalb die Arbeiten.

Geht es Dir bei der Auseinandersetzung mit Geschichten Fremder auch um Deine eigene Identität, Herkunft oder Vergänglichkeit oder siehst Du Dich einfach nur als Beobachter und Sammler?

Die Fotografie ist eng mit dem Tod und der Sterblichkeit des Moments verknüpft. Auch wenn es in diesen beiden Arbeiten in erster Linie um die Metaebenen der Bilder geht, berührt mich das inhaltlich-nostalgische Nachdenken über die Fotografien vom Flohmarkt ebenfalls. Besonders im Hinblick auf den Wunsch, etwas festzuhalten und es damit gehen lassen zu müssen. Die Vergänglichkeit schreibt sich in die fotochemische Fotografie ein. Andererseits ist die Aneignung fremder Lebensgeschichten ohne die bewusste Zustimmung der Fotografin oder der dargestellten Menschen ein eigenartig gewaltsamer Akt – und in Zeiten der Postdigitalität auch wieder nicht.

Wenn Dich ein Kind fragt, was Du künstlerisch machst, was antwortest Du?

Puh, das ist eine wirklich gute Frage. Eigentlich würde ich das Kind gerne fragen, was es in meinen Arbeiten sieht. Ich vollziehe in meiner künstlerischen Praxis immer wieder einen Spagat zwischen theoretischen Fragestellungen der künstlerischen Forschung und gänzlich intuitiv-schöpferischen und materialgebundenen Prozessen, die aus einem inneren Spiel stammen. Erstes bezieht sich dabei natürlich auf die Arbeiten “Ghosts” und “Vermutung für dieses Bild”. Das zweite müsste ich dem Kind wahrscheinlich nicht erklären. Ich glaube, ich würde sagen, dass ich eine Forscherin bin.

www.sissyschneider.de

Fotos: Sissy Schneider