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Alte Fotos, neue Kunst – Sebastian Riemer über die Schönheit des Zufalls

Fotografieren, was man nicht sehen kann – ein Widerspruch? Sebastian Riemer zeigt, wie unabsichtliche Schönheit entsteht, wenn alte Fotos neu interpretiert werden.

 
 

Wann hast Du angefangen, als Künstler zu arbeiten, und warum? Wann hast Du Dich das erste Mal mit Kunst beschäftigt?

Beides 1998. Ich war positiv schockiert von der Tatsache, dass Kunst ein Freiheitspotenzial verheißt anstelle des bis dahin von mir angenommenen „working-class“-Kunstbegriffs, in dem Dinge wie Tradition, Meisterschaft, Talent, Themen, Hierarchie etc. dominieren. Verantwortlich dafür war ein Besuch einer Robert-Rauschenberg-Ausstellung im Museum Ludwig. Alles, was ich dort sah, habe ich wochenlang so inbrünstig verachtet, bis ich es schließlich liebte.

Denkst Du die Kunst vom Medium und Material her oder vom Thema?

Es gibt für mich hier noch etwas unbenanntes Drittes. Ausgehend davon erspüre ich, was ich machen will und was ich schön und gut finde.

Gibt es etwas, das Kunst nicht darf?

Dazu würde ich lieber Juristen aller Länder befragen.

Welchen Regeln folgt Dein Stil?

Technischen.

Welche Techniken und Materialien bevorzugst Du?

Fotografische.

Wenn Dich ein Kind fragt, was Du künstlerisch machst, was antwortest Du?

Fotos. Oft Fotos von Fotos, die andere gemacht haben. Diese Fotovorlagen sind dann manchmal sehr alt und von Leuten, die diese als Teil ihres Berufs gemacht haben. Dann wurden sie oft vergessen oder weggeworfen. Ich finde sie wieder. Wenn ich dann diese Fotos fotografiere, mache ich sie zu meinen Fotos, damit man sehen kann, wie schön das ist, was andere vorher unabsichtlich gemacht haben – oder wie schön es ist, was unabsichtlich durch das Vergehen der Zeit hinzugekommen ist. Das Unabsichtliche wird bei mir zum Motiv. Ich fotografiere also Dinge, die man gar nicht sehen kann. Das ist ein Widerspruch beim Fotografieren und eine Herausforderung für mich, aber auch für die Menschen, die meine Fotos anschauen.

Kaufst Du Kunst?

Kunst anderer zu besitzen, ermöglicht mir sie besser zu begreifen, genauer und länger betrachten zu können, von ihnen zu lernen und mich an ihnen zu erfreuen. Die Werke der anderen testen mich und ich teste sie.

Ein Künstler, den Du bewunderst bzw. der Dich beeindruckt?

Ewald Mataré hat mich mit seiner Hingabe zu schlichten Sujets und ihrer Umsetzung immer wieder erfreut.

 
 

Welche Ausstellung hast Du zuletzt besucht? Welche Ausstellung muss man unbedingt sehen?

Ich besuche am liebsten die ständigen Sammlungen der Museen. Man kann viel über das Selbstverständnis der Häuser und der dort arbeitenden Leitungspersonen erfahren. Gerade zurzeit ist es spannend zu sehen, welche Versuche und Bemühungen unternommen werden, Dinge zu verändern, um zeitgemäßen Fragen zu begegnen. Meist sind das auch Ausstellungen, die über ihre sehr lange Ausstellungsdauer (oft viele Jahre) kleine Veränderungen hier und da erfahren. Ich sehe sie oft über viele Jahre hinweg und kann beobachten, wie man sich verändert hat und wie man zu Dingen steht, die sich dort oft nicht verändert haben, aber sich verändern sollten.

Eine typische Angewohnheit von Dir?

Stürzende Linien gerade ziehen oder durch geeignetes Fotografieren direkt zu vermeiden und dann erstmal nur globale Korrekturen vorzunehmen.

Wie sind Deine Erfahrungen im Kunstmarkt und was rätst Du jungen Künstlern bzw. Akademie-Absolventen?

Warten und abwarten. Erwarten, durch- und hinterwarten.

Was zeichnet die Kunstszene im Rheinland für Dich aus?

Leidenschaftliche Geselligkeit.

Was können wir in nächster Zeit von Dir sehen? An welchen Projekten und Ideen arbeitest Du momentan?

Seit Oktober ist eine Ausstellung von mir in der Galerie Dix9 in Paris zu sehen. Dort zeige ich neue Arbeiten aus den letzten drei Jahren, bei denen von meiner Seite aus keine optischen Geräte zur Erstellung von technischen Bildern zum Einsatz kamen. Ich habe Bilder über KI gemacht, ohne dabei KI zu benutzen. Dabei teste ich, inwiefern man visuell in den Maschinenraum der digitalen Bildproduktion und -verwertung vordringen kann. Ausgegangen bin ich von Stock-Fotos, bei denen die Arbeitsplätze der Urheber durch KI stark bedroht sind.

Dann habe ich ein eigenes digitales Diffusionsmodell – wie es auch bei den meisten KI-Bildern angewendet wird – aus prähistorischen Bildverarbeitungs-Algorithmen (also älter als 20 Jahre) erstellt. Diese Algorithmen lasse ich gegeneinander antreten, und so werden neue Bilder aus bereits bestehenden errechnet. Da dabei die „eigentliche“ Bildinformation verloren geht, würde ich lieber von einer Zerrechnung der Daten sprechen. Mich interessiert, wie auf solche Bilder geschaut wird, die noch Grundeigenschaften von Fotos haben, keinen Hehl daraus machen, dass sie algorithmisch entstanden sind, aber eben nicht mehr in die Welt da draußen zeigen, sondern nach innen auf ihre technisch-digitale Bildhaftigkeit weisen. Ihr Sein in einem Kosmos aus 1 und 0.

Von wem würdest Du gerne mal ein Interview im Kunstbar Magazin lesen?

David Czupryn, Linda Fregni Nagler, Deganit Berest

 
 

Sebastian Riemer (*1982 in Oberhausen, Deutschland) studierte von 2002 bis 2010 an der Kunstakademie Düsseldorf, u. a. in den Klassen Christopher Williams und Thomas Ruff, dessen Meisterschüler er ist. Ein Auslandssemester führte ihn 2006 an die Akademie der schönen Künste in Krakau. Riemer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Förderpreis des Landes NRW (2015) und die Silbermedaille der schönsten Bücher aus aller Welt der Stiftung Buchkunst (2024). Stipendien und Residenzen führten ihn u. a. nach Tel Aviv, Istanbul und Moskau. Seine Arbeiten wurden international in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, darunter in renommierten Institutionen wie der Hamburger Kunsthalle, dem Israel Museum in Jerusalem, dem Museum Folkwang, dem Kunstpalast in Düsseldorf, der Kunsthalle Düsseldorf, dem Stadtmuseum München und der Biennale für aktuelle Fotografie. Seine Werke sind geprägt von einem konzeptuellen Umgang mit der Materialität und Geschichte der Fotografie.

sebastianriemer.de