Der rote Faden – Hyunjin Kim, Sofia Magdits Espinoza, Erik Mikaia und Viki Berg
Der rote Faden – Follow the Thread zeigt in doppelter Hinsicht, worum es in der Ausstellung im Düsseldorfer KIT (bis 15.09.2024) geht. Wörtlich können wir dem Faden folgen, auf den jedes Werk in diesem Raum aufgebaut ist: Wolle, Stickgarne, Acrylfäden, Teppichgrund und Markisenstoff haben die Künstlerinnen und Künstler verwendet, um ihre Bilder in Handarbeit und mithilfe verschiedener Techniken und chemischer Mittel zu erschaffen.
Auf einer anderen Ebene ist der „rote Faden“ ein Begriff, mit dem wir Orientierung verbinden. Etwas, das die Dinge im Äußeren und Inneren zusammenhält, dem wir folgen können, das uns Kraft gibt. In dieser Ausstellung ist er ein Leitmotiv, und die vier Künstlerinnen und Künstler Viki Berg, Erik Mikaia, Hyunjin Kim und Sofia Magdits Espinoza laden uns ein, bei der Betrachtung ihrer Arbeiten beide Ebenen zu verbinden. Das kann durch Anschauen geschehen, aber auch durch aktive Teilnahme am Schaffensprozess.
Dass junge Menschen sich heute intensiv mit textiler Kunst auseinandersetzen, gründet auf einer langen Geschichte der Textilkunst, angefangen mit den bretonischen Nonnen, die im 11. Jahrhundert den berühmten 68 Meter langen Wandteppich von Bayeux mit zeitgenössischen, kriegerischen Motiven bestickten. Tausend Jahre später erfordert das gestrickte, gewobene, gestickte oder getuftete Medium immer noch das gleiche handwerkliche Geschick, genaue Planung und ein Gespür für ein Material, das im 18. und 19. Jahrhundert traditionell mit bürgerlicher und adeliger Freizeitbeschäftigung assoziiert wurde. Als Sophie Taeuber-Arp 1916 abstrakte Bilder auf Stramin stickte und ausstellte, waren ihr bereits die Künstler*innen des Jugendstils vorausgegangen, die die Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk aufgelöst hatten und manifestierten, dass textiles Gestalten zum Bestandteil der bildenden Kunst geworden war. Anni Albers, Brice Marden, Rosemarie Trockel und andere folgten, darunter Sheila Hicks, eine weitere Ikone der Textilkunst, die im Herbst in der Kunsthalle Düsseldorf ausstellen wird.
Die Künstlerinnen und Künstler Hyunjin Kim, Sofia Magdits Espinoza, Erik Mikaia und Viki Berg, die für Der rote Faden neue textile Werke geschaffen haben, sind sich dieser historischen Vorbilder bewusst.
Beim Eintreten in den Ausstellungsraum stehen wir am Ufer eines Perlenmeeres. Sofia Magdits Espinoza hat im flachen Teil des KIT mit Perlen eine fließende, an schäumende Gischt erinnernde Komposition erschaffen, die unsere Füße umspielt. Die blaue Farbe und die wellenartige Anordnung der miteinander verwobenen Glas-, Holz- und Plastikperlen lassen uns an den Ozean oder den benachbarten Rhein denken. Das Weben hat sich Sofía Magdits Espinoza selbst beigebracht; sie experimentiert mit Materialien und Techniken. So entdecken wir im Perlenteppich Muscheln, Korallen und Schmuck, angespült ins KIT. Aber nicht alles, was sich in den Tiefen des Meeres verbirgt, glänzt. Gekenterte Frachter, aus denen Öl ausläuft, färben den Ozean schwarz, Korallen sterben und färben sich weiß. Die Künstlerin weist auf diese Umweltkatastrophen mit schwarzen und weißen Perlen hin. Handelsleute im 16. Jahrhundert nutzten Perlen als Tausch- und Zahlungsmittel auf Seerouten, sie wurden von Hand zu Hand gereicht, mit ihnen wurden Geschichten weitergetragen. Dieses erzählende Moment finden wir in Espinozas Arbeiten wieder und können aktiv daran teilnehmen. Die Künstlerin lädt uns ein, selbst Perlen zu fädeln, denn „das Textile umarmt uns die ganze Zeit“. (SME)
Diese „Umarmung“ spüren wir, wenn wir ihren Webteppichen im Gang und im Hauptraum begegnen. Das Vorbild für Untitled/Mountains, aus unterschiedlichem Garn gewebt, kommt von Google Maps: aus der Vogelperspektive beobachtetes Ackerland. Laut Espinoza, die aus Peru stammt, haben die Menschen in ihrer Heimat einen starken Bezug zur Natur. Ihnen ist bewusst, dass wir behutsam mit unseren Ressourcen umgehen müssen. „Celebrating the earth“ – die Erde zu feiern, ist ein Anliegen der Künstlerin, das sie uns auch in Sirenas en Paracas und Oasis nahebringt.
Todo lo que trajo de la noche (Alles, was die Nacht brachte), gewoben aus dunklem Garn, lässt durch die freiliegenden Löcher zarte Lichtstrahlen scheinen. Kleine eingewebte Metallringe glitzern wie Sterne. Im Kontrast dazu eröffnet sich hinter der „Nacht“ der strahlende Tag. Die beiden Arbeiten Cielo II und Cielo III, die zum Projekt Nos vemos en el cosmos (Wir sehen uns wieder im Kosmos) gehören, wurden mit Besucher*innen während vorheriger Ausstellungen gemeinschaftlich gewebt. Bei diesem partizipativen Prozess werden Geschichten geteilt, Emotionen bekundet. Gefühle und Erinnerungen treffen aufeinander, alles webt sich ein in das Werk. Im KIT wird während der Ausstellung ein neues Himmelzelt gewebt: Wir können am Webrahmen Platz nehmen und unsere persönliche Spur hinterlassen.
Im Gang treten wir ein in Viki Bergs Herbarium. Wir sehen hier keine getrockneten, auf Papier gepressten Pflanzen, wie es klassischerweise wäre, sondern von der Künstlerin aus Acrylgarn getuftete Blüten und Fantasiegewächse. Mit ihren Flowers und Monster Flowers öffnet uns Berg die Türen zu ihrer Heimat, der Ukraine, denn das Florale hat dort eine große Bedeutung. Sogenannte Petrykivka-Malereien, florale und dekorative Ornamente, die seit dem 19. Jahrhundert Wohnfassaden und Alltagsgegenstände in der Ukraine schmücken, zieren nun die Betonwände des KIT. Die Motive der „Petrykivka“ entspringen der dort heimischen Flora und Fauna. Auf Türen und Wände gemalt, bewahren die Blüten und Vögel den eintretenden Gast vor bösen Einflüssen, ganz so, als würde man ein beschützendes Amulett bei sich tragen. Bei jedem Schritt behüten auch uns die getufteten Blumen, da „nur das Schöne das Schlechte aufhalten kann“, wie die Künstlerin sagt.
Unter dem Fenster im Hauptraum finden wir uns wieder im Monster Garden der Künstlerin. Es ist ein sehr persönlicher Garten, in den sie uns einlädt. Hier dürfen wir ihr Inneres erkunden, uns umsehen und verweilen. Über diese intime Verbindung werden wir angeregt, über unsere eigenen „Monster“ nachzudenken, denn Viki Bergs Blumen stehen für das Unterbewusstsein, mit all seinen Emotionen und Ängsten. Die ungewöhnlichen Formen ihrer Pflanzenwelt spiegeln das Unbewusste in uns, vor dem wir uns manchmal fürchten und das trotzdem zu uns gehört. An einer Wand scheint ein Teppich zu hängen, allerdings entpuppt sich dieser als optische Täuschung: Auf einem aus Holz bestehenden Zickzack-Element können wir von der linken Seite ein anderes Bild betrachten als von der rechten: Auf der einen sehen wir die „schöne“ Oberfläche aus weichem, getufteten Garn, auf ihr blüht eine rote Blume. Auf der anderen Seite hält uns Viki Berg den meist verborgenen Teppichrücken vor Augen, auf dem eine schwarze Blume zu sehen ist. Im Gegensatz zu ihren kleinen Teppichen sind die Blumen nicht getuftet, sondern mit Acrylfarbe gemalt. Der Teppich als Bildträger eröffnet uns hier mehrere Ebenen der Rezeption.
Die farbigen Leinwände von Hyunjin Kim sehen von Weitem aus wie Malereien, aber dieser erste Blick trügt. Schon während ihres Studiums stellte sich die Künstlerin die Frage, welche Gattungen und Systeme für ihre persönliche künstlerische Praxis bedeutend sein könnten. Diese Auseinandersetzung ist in ihren heutigen Arbeiten sichtbar: Von der Malerei über die Bildhauerei bis hin zur Literatur fand sie ihren Weg wieder zurück zur Malerei. Ihr Interesse gilt der Haptik von Materialien und wie diese bearbeitet und kombiniert werden können. Heute nutzt sie farbiges Garn statt angemischter Pigmente, den Pinsel ersetzte sie durch die Nadel, nur der flächige Bildträger ist geblieben. Auf weißer Leinwand wirken die gestickten Fäden dennoch wie intensive Pinselstriche, Hyunjin Kim malt sozusagen mit jedem Stich. Die Farbgebung innerhalb ihrer Werke variiert sie intuitiv: Pastellfarben, aber auch kräftig-dunkle und energisch-knallige Töne sind zu sehen. Durch die bunten Fäden blitzen immer wieder die Bleistiftstriche der Vorzeichnungen auf und weisen darauf hin, dass die Künstlerin formal nach einem klaren Plan arbeitet.
Ihre Motive findet Hyunjin Kim im Alltag, wo sie mit der Handykamera interessante Situationen festhält. Aus diesen entstehen traumhafte Fantasielandschaften, wie wir sie in That Afternoon sehen können. Neben spielerischen und literarischen Typografien, wie in Short Temper, tauchen in Mau auch geometrische Formen auf. Mal sehen wir dicht beieinander gestickte Fäden, manchmal liegen sie luftig auseinander und auch komplett freie, unbearbeitete Flächen lassen sich finden. Bei Soothing Life, installiert auf einer Staffelei, sehen wir kleine Meeresfische, die sich durch Algen und Korallen schlängeln. Im Gegensatz zu den anderen Arbeiten kann bei diesem „Aquarium“ die Leinwand von beiden Seiten betrachtet werden: Eine Vielzahl von bunten, langen und kurzen, herunterhängenden Fäden setzt sich hier zu einer eigenständigen abstrakten Komposition zusammen.
Hyunjin Kims großformatigen Arbeiten stehen sechs kleine Leinwände gegenüber, die an ihre Anfänge erinnern. Manche nannten die kleinen gestickten Werke „Schoßarbeiten“, in Anspielung auf die angeblich typisch artig-weibliche Handarbeit. Dabei hatte die englische Stoffkünstlerin Louisa Pesel (1870–1947) bereits 1917 in Bradford (GB) einen Handarbeitsclub für junge Männer gegründet, in dem verwundete Soldaten beim Sticken seelische und körperliche Erholung erfuhren.
Erik Mikaias Arbeiten sind stets auf den Ort bezogen. Sowohl in seinen kleinen als auch in seinen raumgreifenden Arbeiten lässt er sich ein auf das experimentelle Spiel mit Stoff und Bleiche. Ursprünglich aus der Malerei kommend, entwickelte der Künstler einen eigenen Zugang zum Medium Farbe. Anstatt in der klassisch vorgegebenen Reihenfolge zu arbeiten – Farbpigmente mit Bindemittel anzumischen und auf die Leinwand mit Pinsel oder Spachtel aufzutragen –, arbeitet Erik genau entgegengesetzt, er entzieht bereits gefärbten Stoffen die Farbe. Hierbei geht er wie ein Bildhauer vor: Der Stoff ist sozusagen sein Marmorblock, die Bleiche sein Meißel, das Werk liegt verborgen im Material selbst. Mit jeder Bleichung legt Erik Mikaia schrittweise die stoffliche Skulptur frei. Umso dunkler der Stoff, desto besser kann die Bleiche Abstufungen verschiedenster Farbtöne sichtbar machen. Wie beim Batiken werden die Stoffe an vom Künstler bestimmten Stellen verknotet und fixiert. An diesen Stellen spielen sich chemische Prozesse ab, deren Endergebnis teils unkontrollierbar ist, denn die Bleiche agiert wie ein Akteur, der mit spontanen Gesten überrascht. Anders als bei Ölfarbe auf Leinwand, können Fehler nicht mehr ausgebessert werden. Jede Falte und jeder Handgriff ist im Stoff verewigt. Im Kleinen ist dies in Mikaias Werkgruppe Spielfelder zu betrachten. Die mit Magneten verbundenen gebleichten Leinwände erinnern an ein Fußballfeld und fordern unsere Sehgewohnheiten heraus. Im Großen finden wir uns am Ende des KIT zwischen riesigen Stoffbahnen wieder: Wie vor einer aufkommenden Welle stehend, werden wir überwältigt von der Größe des farbigen Textils. Mikaia hat hier an den Rhein gedacht, der gleich neben dem KIT manchmal durchaus wild dahinströmt. Das hinter den Stoffen versteckte LED-Licht gibt den Werken ein auratisches Leuchten.
In einem Stoff hinterlassen nicht nur Farbe und Bleiche Spuren. Auch nicht Greifbares bleibt in ihm haften. Leermenge ist ursprünglich eine Markise gewesen, die 20 Jahre lang den Gästen einer Gastronomie als Schutz vor Witterung diente. Weder der Künstler noch wir wissen, was die Markise „erlebt“ hat. Wir können ahnen, dass sich das Textil über die Jahre mit Gelächter, Tränen und Erinnerungen aufgeladen hat. Wie Geister breiten sich diese Emotionen nun im KIT aus, sie begleiten uns, flüstern uns zu, was sie erlebt haben.
KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf
Dauer der Ausstellung: 01.06.2024 – 15.09.2024
Kuratorin: Jessica Gilles